Frau oder Mann oder was?

Wenn man wissen will, welche Geschlechterrollen die Menschen in der Vorgeschichte eingenommen haben, kann man sich nicht auf schriftliche Zeugnisse stützen. Vorgeschichte (auch Urgeschichte oder Prähistorie) bezeichnet ja Epochen, aus denen keine schriftlichen Überlieferungen vorliegen. Eine wichtige Quelle der Forschung zu den Geschlechterrollen in der Vergangenheit sind deswegen figürliche Darstellungen. Diese müssen aber interpretiert werden, und das ist der entscheidende Punkt!

Wann ist die Figur eine Frau?

Wenn du mal darauf achtest, wirst du feststellen, dass in Museen, in Artikeln und in Büchern viele Figuren als männlich bezeichnet werden, obwohl sie keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale aufweisen. Wenn mir das aufgefallen ist, habe ich früher immer gedacht, das weiß man schon irgendwoher. Bei der betreffenden Skulptur oder Gravur oder so war vielleicht doch eine Inschrift dabei. Oder man hat einen Beweis, aber nennt ihn grad nicht.

Denkste. Oft ist die Zuweisung zu einem Geschlecht einfach willkürlich. Nach dem Motto: Ich sehe keine Vulva, also ist das ein Mann.

Viele prähistorische Figuren zeigen keine Geschlechtsmerkmale

Tatsächlich sind menschliche Figuren ohne Vulva und Brüste bzw. ohne Bart, Penis und Hodensack keinesfalls selten. Hierzu ist der Kessel von Gundestrup, der in meinem Roman Der silberne Kessel im Mittelpunkt steht, ein interessantes Beispiel.

Die Interpretation von Figuren am Beispiel des Gundestrup-Kessels

Der Kessel von Gundestrup wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Dänemark in einem Torfmoor entdeckt. Er besteht aus Silberplatten, die, zusammengesetzt, seine Gefäßwände bilden. Auf diesen Silberplatten sind Figuren dargestellt. Es wurden fünf Innenplatten gefunden und sieben Außenplatten (ursprünglich waren es wohl acht). Eine runde Bildplatte sitzt innen auf dem ansonsten glatten Kesselboden.

Die Figuren stellen Tiere und Fabeltiere dar, auch viele menschliche Figuren sind in die dünnen Silberplatten getrieben. Bei den menschlichen kann man, im Bezug auf das Geschlecht, drei Arten unterscheiden, nämlich

  • Figuren mit Bärten (insgesamt sechs, davon fünf als zentrale Figuren auf der Platte),
  • Figuren mit Brüsten (ebenfalls sechs insgesamt, davon vier zentrale Figuren) und
  • Figuren ohne Bärte und ohne Brüste (insgesamt 32, davon zwei als zentrale Figuren).

Figuren mit Bärten

Geschlechterrollen in der Vergangenheit: Eine Figur mit Bart und zwei Figuren ohne Geschlechtsmerkmale auf dem Kessel von Gundestrup(Sophus Müller, 1892)
Abb. 1
Geschlechterrollen in der Vergangenheit: Eine Figur mit Bart auf dem Kessel von Gundestrup(Sophus Müller, 1892)
Abb. 2

Diese beiden großen Figuren tragen einen Bart und sind somit als männliche Figuren zu erkennen. Es könnten Figuren aus Legenden oder Mythen sein, oder sie stellen Personen dar, die bekannt und/oder mächtig waren.

Figuren mit Brüsten

Geschlechterrollen in der Vergangenheit: Eine Figur mit stilisierten Brüsten auf dem Kessel von Gundestrup(Sophus Müller, 1892)
Abb. 3
Geschlechterrollen in der Vergangenheit: Eine Figur mit stilisierten Brüsten auf dem Kessel von Gundestrup(Sophus Müller, 1892)
Abb. 4

Auf diesen beiden Silberplatten weisen beide zentrale Figuren Brüste auf. Die Brüste befinden sich, besonders bei der rechten Figur, nicht genau an der anatomisch richtigen Stelle, sondern dort, wo auf dem Bild noch Platz ist. Wahrscheinlich wurden die Brüste dargestellt, weil die Auftraggeberin oder der Handwerker unbedingt zeigen wollten, dass es sich um eine Frau handelt. Vielleicht ist eine Gottheit oder eine andere mythologische Figur gemeint. Oder das Bild stellt eine mächtige Frau dar, die zum Zeitpunkt der Herstellung des Kessels noch gelebt hat. Oder eine, die bereits verstorben war und in eine Legende eingegangen ist.

Figuren ohne Geschlechtsmerkmale

Die meisten Figuren auf dem Kessel von Gundestrup besitzen weder Brüste noch Bärte noch andere Geschlechtsmerkmale. Manchmal handelt es sich dabei um kleine Figuren wie die beiden Menschen in den Händen des Bärtigen (Abb. 1) oder die liegende Figur auf dem Oberkörper der Frau (Abb. 3). Möglicherweise sind hier keine konkreten Personen gemeint, sondern die Figuren stehen stellvertretend für eine Gruppe von Menschen, zum Beispiel für Stämme oder für bei einer Schlacht Gefallene.

Es finden sich aber auch zentrale Figuren auf dem Kessel, die detailreich dargestellt sind, aber keine Geschlechtsmerkmale aufweisen.

Geschlechterrollen in der Vergangenheit: Eine Figur ohne Geschlechtsmerkmale auf dem Kessel von Gundestrup (Sophus Müller, 1892)
Abb. 5

Auf der Innenplatte in Abb. 5 zum Beispiel kann man nicht sagen, ob die Figur mit dem Geweih auf dem Kopf eine Frau oder ein Mann sein soll.

Cernunnos, der gehörnte Gott

Diese gehörnte Figur ohne Geschlechtsmerkmale wird oft als „der Gott Cernunnos“ bezeichnet. Diesen Namen hast du vielleicht schon einmal gelesen. Ich habe mich gefragt, wie man auf die Idee kommt, diese Figur sei männlich. Und dann habe ich recherchiert.

Was weiß man über Cernunnos?

Zu allererst ist es gar nicht sicher, dass es einen Gott dieses Namens überhaupt gab! Tatsächlich wurden in der europäischen Vorgeschichte zwar viele Darstellungen von Menschen mit Hörnern gefunden, aber untereinander weisen sie viele Unterschiede auf. Es ist keinesfalls bewiesen, dass sie die gleiche Bedeutung haben. Manche stellen vielleicht tatsächlich Gottheiten dar, aber es könnten auch Figuren aus Legenden oder ganz einfach Menschen mit einem Hörnerhelm gemeint sein. Denkbar wäre, dass spirituelle Praktiken von einer Person mit einem Hörnerhelm geleitet wurden, doch auch dies ist nur eine Vermutung.

Auf jeden Fall taucht der Name Cernunnos nur ein einziges Mal auf, und zwar in lateinischer Schrift in Frankreich. Das habe ich in einem Forschungsartikel von Heidi Peter-Röcher gelesen, der 2013 in einer renomierten archäologischen Fachzeitschrift erschienen ist (wenn du nachlesen willst: Es steht auf Seite 195).

Bei dieser Inschrift auf dem sogenannten Pariser Nautenpfeiler handelt es sich vielleicht nur um eine Beschreibung, denn das lateinische Wort Cernunnos bedeutet „der Gehörnte“. In diesem Fall gäbe es gar keinen Gott mit diesem Eigennamen.

Stichwort Geschlechterrolle

Ich komme noch einmal auf die gehörnte Figur auf dem Kessel von Gundestrup zurück. Natürlich ist diese Figur wichtig, denn sie ist das zentrale Element auf der Silberplatte, und sie wurde mit vielen Details ausgestattet. Die Körperhaltung der Figur eignet sich wunderbar, Penis und Hodensack darzustellen und sei es nur in Form eines Buckels. So ähnlich, wie die Brüste der Frauen in den Abb. 3 und 4 geformt sind. Aber diejenigen, die den Kessel erschufen, haben darauf verzichtet. Entweder besitzt die Figur keine männlichen Geschlechtsteile oder sie spielten keine Rolle.

Trotzdem wird diese Figur oft als Gott oder Schamane bezeichnet. Sogar Heidi Peter-Röcher (die Wissenschaftlerin, die den kritischen Cernunnos-Artikel geschrieben hat) nennt die Figur einen „bartlosen jungen Mann“). Noch nie habe ich irgendwo gelesen, es könne eine Göttin oder Schamanin sein. Ich bitte dich ausdrücklich um Aufklärung, falls du mir hier widersprechen kannst!

Und jetzt google mal das Wort Cernunnos und lass dir die Bilder zeigen. Du wirst hauptsächlich die gehörnte Kesselfigur finden und moderne Bilder von muskelbepackten Männern, oft in der Pose der Kesselfigur. Da muss man doch denken, dass es sei irgendwie bewiesen, es hätte einen männlichen Hirschgott gegeben!

Alle Fotos von den Silberplatten (Abb. 1 bis 5) stammen aus dem Artikel von Sophus Müller (1892): Det Store Sølvkar fra Gundestrup i Jylland. Særtryk af Nordiske Fortidsminder.

Meine Vorschläge zur Interpretation der gehörnten Figur

Ich versuche mal ein Brainstorming zu der Frage, wer oder was die Figur mit dem Geweih auf dem Kopf sein könnte.

  • Es könnte ein Amt dargestellt sein, zum Beispiel ein spirituelles Amt, das von Männern und Frauen ausgeübt werden konnte.
  • Oder das Geschlecht war bei dieser Person so nebensächlich, dass es nicht dargestellt werden brauchte. Vielleicht, weil die Geschlechterrollen in der Vergangenheit nicht strikt festgelegt waren?
  • Oder die Person hatte keine eindeutige Geschlechtsidentität.

Fällt dir noch eine andere Möglichkeit ein? Bitte schreibe sie mir unten in die Kommentare!

In meinem Roman allerdings stellt die Figur eine legendäre Ahnin in ihrer frühen Jugend dar. Eine flachbrüstiges Mädchen. Der silberne Kessel ist ja eine fiktive Geschichte und kein wissenschaftlicher Artikel, und da kann ich mir diese Freiheit erlauben. 🙂

Kennst du Beispiele, wo Figuren quasi reflexartig als Männer oder als Götter bezeichnet werden, obwohl sie keine Geschlechtsmerkmale aufweisen? Schreib’s in die Kommentare!

Kleiner Exkurs: Gottheit oder Mensch?

Der Begriff der Gottheit wird übrigens auch oft gefühlsmäßig verwendet. Die sogenannten Pfahlgötter, menschengestaltige Holzskulpturen (manchmal spricht man auch von Idolen), könnten auch etwas ganz anderes darstellen als göttliche Wesen. Spontan fallen mir Votivgaben, also symbolische Opfergaben, ein.

Figurine aus Willendorf (11 cm hoch)

Hier, in Abb. 6, siehst du eine 11 cm hohe Figur aus Österreich. Sie ist mindestens 25000 Jahre alt und wird als Venus von Willendorf bezeichnet. Vielleicht ist sie von den sogenannten Venusfigurinen die bekannteste.

Foto: Don Hitchcock, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Ob sie tatsächlich eine Göttin darstellt, ist im wahrsten Sinne des Wortes Glaubenssache. Vielleicht verehrten die Menschen damals gar keine menschengestaltigen Götter. Die Figur stellt eine Frau dar, vielleicht ist es ein Kultgegenstand, vielleicht eine Spielfigur. Oder etwas ganz anderes.

Die Meinung über Geschlechterrollen in der Vergangenheit ändert sich

Die friedfertige Frau, die sich in der Gesellschaft im privaten und unsichtbaren Bereich aufhält, und die jagenden bzw. kämpfenden Männer, die von der Gemeinschaft verehrt und gefeiert werden – an diesen Stereotypen rütteln inzwischen immer mehr Wissenschaftler*innen. Interessanterweise wird ein herrausragendes Frauengrab jedoch meist nicht als „Fürstinnengrab“ oder gar „Königinnengrab“ interpretiert, wie es analog zu Männergräbern oft der Fall ist. Sondern man spricht von einer „Führungsposition“. 🙂 Was ja auch viel vernünftiger ist. Die gleiche Zurückhaltung wünsche ich mir bei figürlichen Darstellungen. Es reicht doch, wenn man von Mensch redet, wenn Gender bzw. Geschlecht nicht nachgewiesenermaßen feststehen.

Die Anekdote: Der künstliche Zeremonienbart

Durch schriftliche Quellen wissen wir, dass es im Alten Ägypten der künstliche Zeremonienbart zu den Insignien der Pharaon*innen gehörte. Die Königinnen Chentkaus I (4. Dynastie, vor etwa 4500 Jahren) und Hatschepsut (18. Dynastie, vor etwa 3500 Jahren) trugen auf Darstellungen diesen Bart.

Hier siehst du eine Büste von Hatschepsut, die wir ohne das Wissen von dem Zeremonienbart und ohne Inschriften sicherlich für einen Mann halten würden.

Foto von Keith Schengili-Roberts, CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

Fazit

Bei der Interpretation, ob eine Figur eine Frau oder einen Mann darstellt, besteht die Gefahr, unsere Vorstellung von Geschlechterrollen und ihren Dualismus auf die Vorgeschichte zu übertragen. Die falsche Schlussfolgerung daraus ist, diese Geschlechterrollen seien schon immer so gewesen, wie wir es uns vorstellen. Ein klassischer Zirkelschluss.

Mehr Infos gefällig?

Wenn du mehr zu Geschlechterrollen in der Vergangenheit lesen willst, schau mal hier nach:

  • Prähistorische Jägerinnen in den Anden
  • Zur Wiking-Kriegerin von Birka
  • Ein Artikel von 2023 zu einem Grabfund in der Kupferzeit in Spanien
  • Ein Interview mit der Archäologin Brigitte Röder von 2022 zum Thema
  • Ein Interview mit der Prähistorikerin Jutta Kneisel von 2022 zu Frauen in der Bronzezeit
  • Schon älter (von 1992), aber genial: Die Frau in der Vorgeschichte von Margaret Ehrenberg

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Cover Der silberne Kessel

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5 Anmerkung zu “Frau oder Mann oder was?

  1. Birgit Constant

    Interessante Beobachtungen, die wie so oft darauf hindeuten, dass der Mann als Norm und die Frau als Abweichung gesehen wird. Mir ist leider entfallen, wo es war, aber man hat vor ein paar Jahren entdeckt, dass in einem Grab, das mit Schwert und anderen typischen Beigaben aus Gräbern männlicher Krieger, in der Tat das Skelett einer Frau lag und nicht das eines Mannes, wie zunächst aufgrund der Beigaben automatisch angenommen. Wie sieht es dann aus, wenn wir den Zeremonienbart der Ägypter auf Zeremonienbrüste in anderen Zivilisationen ausweiten, vielleicht für Erdgötter, die die Menschen mit ihren Früchten ernähren wie Frauen ihre Kinder stillen? Der Mensch hat sich im Laufe seiner Evolution doch immer schon gerne mit fremden Federn (Fellen, Häuten, Schmuck, etc.) geschmückt.

    Antworten
    1. Charlotte Fondraz Autor des Beitrags

      Die Zeremonienbrüste sind eine ausgefallene Idee. Dazu fällt mir kein Beispiel ein, aber ausschließen kann man es nicht. Ich werde mal drauf achten. Danke für deinen Kommentar! Mit dem weiblichen Skelett meinst du sicher die Wikingerin aus Birka, der Link zu einem Artikel über sie steht im Artikel (Bei: Mehr Infos gefällig?).

      Antworten
  2. Katrin Opatz

    Danke dir für den interessanten und klugen Artikel! Ich habe das bis jetzt auch meistens ungefragt hingenommen, wenn geschlechtslose Figuren als Männer eingeordnet wurden. Bei zukünftigen Museumsbesuchen, bei Dokus etc. werde ich darauf jetzt vermehrt achten.

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